„Sie trafen einzeln ein, in kleinen Gruppen oder in großen Sammeltransporten. Seltsam fremd und verloren waren sie anzusehen. Männer in derben, unmodernen Anzügen, seltener auch Frauen, mit grobgeschneiderten Röcken und bunten Kopftüchern. Ein Sack, manchmal nur ein Kissenbezug, enthielt ihre gesamte Habe – ein bißchen Wäsche, etwas Bettzeug. Auf den Bahnhöfen aber stand die einheimische Jugend und machte spöttische Bemerkungen. „Die Waschbären kommen!“
Dort, wo sie bisher gelebt hatten, diese „Waschbären“, West- und Ostpreußen, in Posen und Oberschlesien, waren ein paar Monate zuvor die Werber auf den Dörfern erschienen. Sie versprachen eine bessere Zukunft im Westen, in den Hüttenwerken und den vielen neuen Zechen an der Ruhr. Zigaretten, Bier und Schnaps wurden von den Fremden freigiebig unter den neugierigen Zuhörern verteilt. Wer den Arbeitsvertrag unterschrieb, erhielt auf der Stelle eine ganze Mark „Angeld“ und am Abend fand im Dorfkrug ein großes Tanzvergnügen statt, zu dem der ferne Unternehmer alle herzlich einlud.
So und ähnlich beschreiben zeitgenössische Berichte den Beginn einer Invasion, einer Völkerwanderung, die das Gesicht der bisher fast menschenleeren Landschaft an der Emscher bis zur Unkenntlich umgestalten sollte.“ so Enno Stephan in seinem Buch „Das Revier der Pioniere“, Kapitel 21 „Die Invasion der Waschbären“ auf Seite 235.
Die Aussicht auf höhere Löhne, preisgünstige Zechenwohnungen und soziale Aufstiegsmöglichkeiten lockte Tausende von Kleinbauern und Landarbeiter in den Westen.
Diese „Waschbären“ waren keine Ausländer. Die „Waschbären“ kamen vor allem aus den preußischen Ostprovinzen in das Ruhrgebiet. Die Einwohner West- und Ostpreußen besaßen die preußische Staatsangehörigkeit und waren somit Deutsche. Nur sprachen diese „Waschbären“ meistens polnisch und waren „Polacken“.
Spottpostkarte auf den Kinderreichtum der „Waschbären“ im Ruhrgebiet
Na Stanislaus, bist´ nicht bang,
dass dir der Wagen genullt wird ?
Ne Kamerad, dä Wagen wird nich
genullt, der is ja immer voll.
Im Bergbau wurde der Förderwagen „genullt“ – also mit Lohnabzug belegt – wenn dieser nach Ansicht des Steigers nicht voll war oder zu viel taubes Gestein enthielt.
2002 habe ich für einige Jahre in Leipzig gelebt. Es war ein Umzug von West- nach Ostdeutschland. Damals hat niemand von einer Invasion, Zuwanderung oder Einwanderung gesprochen.
Mein Urgroßvater wird sicher ins Ruhrgebiet ausgewandert sein, denn wer auswandert muß schließlich auch irgendwo einwandern. Unter „Jendreton“ und dem Jahr 1904 findet sich der Eintrag in der Deutschen Auswanderdatenbank in Bremerhaven. Auch seine Zeit in den USA läßt sich dokumentieren.
Meine Urgroßmutter ist mit den Schwestern (Paula, Wladislawa und Martha) meiner Oma dagegen nur umgezogen. Die sind nie ausgewandert, die haben immer nur in Deutschland gelebt, als deutsche Staatsbürger polnischer Abstammung.
Mit dem Zug sind sie 1910 von Radoszki (Radosk in Westpreußen) über Berlin nach Gelsenkirchen gefahren. Meine Urgroßvater ist dagegen mit dem Schiff von New York über Hamburg ins Ruhrgebiet angereist.